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Dein kurzer Besuch
Nicht bleiben können

Als ich 11 Jahre nach der Geburt unserer ersten Tochter das zweite Mal meine Frau sagen hörte, dass sie schwanger sein könnte, ging eine warme Welle der Freude durch mich hin­durch. Wir kramten die alte Doppelpackung mit einem Schwangerschaftstest aus einer Schub­lade, in der er seit damals gelegen hatte. Die Striche am Test waren deutlich und wir tanzten und lachten durch unsere Wohnung. Eine Woche später saß ich in einem Fortbildungskurs und hielt es plötzlich nicht mehr aus. Ich stand auf, verließ den Raum rannte eine Straße hin­auf zu einem Waldstück. Betend, dankend und singend stieg ich durchs Unterholz, bis ich auf eine kleine freie Lichtung kam. Dort stand ein Baumstumpf, auf den ich mich stellte und mei­ne ganze Freude in den Himmel schrie. In diesem Moment sah ich ein Bild vieler Menschen, darunter meine verstorbenen Großeltern und meinen Onkel, wie sie sich mitfreuten und ap­plaudierten.
Meine Frau wusste, dass es eine schwierige Schwangerschaft werden würde und wollte nicht, dass wir es gleich allen erzählen und so warteten wir noch ein wenig mit der Bekanntgabe der freudigen Neuigkeit. Wir beschlossen es auch unserer älteren Tochter erst am Heiligen Abend, der in ein paar Tagen sein würde zu sagen. Ich würde eine Karte für sie machen mit dem Wortlaut: „Es gibt noch eine ganz große Überraschung, obwohl sie noch ganz klein ist." Der erste Besuch bei der Ärztin war ermutigend, alles sah gut aus, doch am selben Abend sagte meine Frau: „Da ist Blut." Ich wollte sie mit dem Wissen beruhigen, dass viele Frauen in der Schwangerschaft bluten, aber sie sagte: „Ich habe auch Krämpfe." Sie wusste in ihrem Inneren, dass wir dieses Kind verlieren werden.
Drei Tage später war Weihnachten. Meine Frau hatte mit 30 Kindern das Krippenspiel einstu­diert, ich begleitete die Lieder am Klavier. Es war ein seltsamer Augenblick. Überall leuchte­ten Eltern- und Kinderaugen. Umgeben von Engeln, Joseph und Maria und den Hirten, blickte ich zu meiner Frau, die vor der ersten Reihe der Kirchenbänke stand um den Kindern den Ein­satz zu geben. Nur ich sah, wie sie sich dabei auf die Zähne biss und unter den Krämpfen litt. Inmitten der Feier der Geburt eines wunderbaren Kindes, starb unseres. Wir hatten einen stil­len Weihnachtsabend und das Kuvert das wir Hannah gegeben hatten, stellten wir mit einer Kerze ans Fenster.

Auf wundersamste Weise entsteht Leben. Mutter und Vater geben etwas von sich und winzig und unsichtbar bildet sich Neues. Kraftvoll ist die Ordnung nach der alles abläuft und gegen viele Widrigkeiten bahnt sich das Leben seinen Weg. Manchmal wird dieser Weg aus uner­klärlichen Gründen abgebrochen und mitten im Aufbruch beendet. Es ist Teil des Geheimnis­ses des Lebens auf Erden, dass diese Reise zu jedem Zeitpunkt beendet sein kann. Aber es ist auch Teil des Geheimnisses, dass wir ahnen, dass keine einzige Lebensspur unsichtbar bleibt, sondern gesehen wird und eingebunden wird in das große Wissen voneinander. Trauer ist das Spüren der Erkenntnis, dass etwas nicht so weitergeht wie erhofft. Trauer ist der Verlust der gedachten Fortsetzung, der Eintritt und Durchgang durch eine unerbittliche Wendung. Trauer ist das unabänderliche Nicht Bleiben von etwas, dessen Bleiben man sich erwünscht hatte.
Und doch bleibt selbst in den größten Verlusten immer etwas zurück. Auch wenn der Mensch selbst durch seine Entscheidung ein ungeborenes Leben beendet, ist dieses Leben zwar früh­zeitig zu Ende, aber nicht grundsätzlich verschwunden.
Es gibt die Erinnerung, die eingravierte Spur im Herzen, und den Glaube, dass es hinter unse­rer Wirklichkeit noch ein anderes Bleiben gibt als in unserer Welt. Eine Wirklichkeit von der es heißt, dass alles vergeht, aber die Liebe bleibt, oder auch, dass jede Träne gezählt und ge­sehen wird, und dass der Tag kommen wird, an dem es keine Trauer mehr geben wird.

Ein paar Tage vor Weihnachten, als wir über die Brücke über den Inn zu unserer Wohnung gingen, hatte ich gesagt: „Wenn es ein Mädchen ist, heißt sie Maria." „Stimmt", sagte meine Frau. Was uns bleibt ist ihr Name, und es ist schön zu wissen, dass wenn wir ihr irgendwann begegnen werden, ihren Namen bereits kennen.




Du bist nicht mehr
der Kreis hat sich geschlossen

unsere Hände bleiben leer
ins Herz bist du gegossen.


Gernot Candolini

 

Aus: „Wendepunkte des Lebens"  Gernot Candolini, Claudius Verlag 2009

Das neue Buch "Wendepunkte des Lebens" von Gernot Candolini erscheint im September 2009. Er ist so freundlich, seinen Bericht schon jetzt für unsere Internetseite freizugeben. Herzlichen Dank dafür!

 
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